Bericht einer A & O Aktivistin vom A-Camp zu den Themen Cis-Dominanz und Awareness:

Im Folgenden möchten wir euch auf einen Bericht einer Aktivistin der Gruppe A & O (Anarchistische Aktion und Organisierung) zu den Themen Cis-Dominanz und Awareness auf dem anarchistischen Sommercamp in Österreich hinweisen:

Ein kurzer Sommer der Anarchie – oder: Wie meine Brüste zum ersten Mal das Sonnenlicht sahen

Mitte August trafen sich einige hundert Anarchist*innen für zehn Tage in Niederösterreich zum anarchistischen Sommercamp. Mein erstes Polit-Camp überhaupt.

Das A-Camp war zunächst ein Ort, an dem ich mich mit der Praxis einer anderen Gesellschaft beschäftigen wollte. Ich hoffte auf Menschen, die jede Herrschaft ablehnen und versuchen, dies konkret und in Echtzeit umzusetzen. Meinetwegen eine Bubble, aber auch ein Versprechen, dass etwas anderes als der Status quo möglich ist.

Als feministische Herrschaftskritiker*in begegne ich in linken Kontexten meist einem Ja zum Anti-Sexismus. Dennoch ist es für alle gender nicht leicht, mit dominantem Verhalten aufzuhören bzw. sich diesem nicht gewohnheitsmäßig zu fügen. Auch Privilegien verschwinden nicht einfach von heute auf morgen. Häufig ist mensch damit beschäftigt, Comrades dauerhaft zu sensibilisieren. Manchmal halte ich die Schieflagen und Hierarchien aber auch einfach aus, denn es kann enorm viel Energie kosten, immer der „Erklärbär“ zu sein.

Auf dem A-Camp sind viele interessante Dinge für mich passiert. Aber das bedeutsamste war wohl die Diskussion, die um das männliche Privileg des nackten Oberkörpers entbrannt ist.

What happened?

An einem der ersten Abende saß eine männlich gelesene Person mit nacktem Oberkörper am Lagerfeuer und wollte sein Shirt nicht anziehen. Die Diskussion wurde über viele Stunden geführt, viele Menschen klinkten sich ein und wieder aus, es gab Beleidigungen irgendwann gab es von irgendwem an irgendwen sogar eine Vergewaltigungsdrohung und viel, viel Unverständnis. Der Mensch verließ am nächsten Tag das Camp. Die Gerüchteküche brodelte. Niemand wusste genau, was passiert war bzw. es wussten viele, wer wann wie falsch oder richtig gehandelt hatte – ein halbes Dutzend verschiedene Versionen der Geschehnisse hatte ich noch vor dem Mittagessen gehört.

Ich selbst war nicht dabei und ich glaube, kein Mensch war die fünf oder sechs Stunden lange Diskussion durchgehend involviert. Eine Rekonstruktion scheint unmöglich und wenig sinnvoll. Allerdings war ein handfester Eklat entstanden, der das ganze Camp am folgenden Tag beschäftigte. Was mich zu diesem Zeitpunkt innerlich gefrieren ließ, waren die vielen unverständlichen und skeptischen Untertöne, die von männlich gelesenen Menschen zu dem Vorfall geäußert wurden. Ich war schon wieder in der gleichen Situation wie so oft: Typen, die sich nie um ihre Privilegien Gedanken machen müssen, äußern alle irgendwie Skeptizismus, dass das ja alles ganz schön übertrieben und irgendwie unentspannt sei. Und da sich ja in dieser Einschätzung so viele cis-Männer einig sind, gibt es da wohl irgendwie Menschen, die Probleme konstruieren, wo eigentlich keine seien.

Dann: Sich zurücklehnen und weiter chillen, weil es sie emotional nicht betrifft, allerhöchstens nervt.

Ich war oft den Tränen nahe, weil ich so wütend und enttäuscht war. Ignoranz statt Solidarität tut halt weh, gerade von den Comrades und gerade da, wo ich eine kleine zeitliche Utopie erhofft hatte.

Nach einem halben Tag voller Gossip und Unbehagen wurde ein Voll-Plenum einberufen. Menschen aus dem Awareness-Team kündigten dies beim Mittagessen an. Am späten Nachmittag war es soweit. Nach einer kurzen Einführung teilten sich alle Anwesenden in ca. fünf Gruppen auf. Mehrere Menschen aus dem Awareness-Team leiteten die „Workshops“ zum Vorfall an. Das wenig aussichtsreiche Unterfangen die Geschehnisse zu rekonstruieren, wurde glücklicherweise gar nicht erst in Angriff genommen. Vielmehr wurde darüber gesprochen, wie im Kontext des A-Camps Grenzüberschreitungen und das Reproduzieren von Herrschaftsprivilegien begegnet werden und wie Handlungsoptionen aussehen könnten.

Am Ende dieses Workshops kamen wir eigentlich zu keinem Ergebnis, aber wir hatten jetzt alle darüber in einer unaufgeregten und nach Verständnis strebenden Haltung gesprochen. Eine kleine simple Verhaltensoption, wie mensch mit dem individuellen Wunsch nach Nacktheit umgehen könne, war, einfach die Anwesenden zu fragen, ob es ok ist, wenn z.B. das T-Shirt ausgezogen wird oder jemensch nackt baden geht. Gleiches ist übertragbar auf z.B. Rauchen.

Nur feministisches Burnout oder eine kleine Utopie?

Die Diskussionsrunde war beendet. Der Austausch war zwar gut verlaufen, aber ich beobachtete währenddessen, wie die Verantwortung für Erklärung, Sensibilisierung und Deeskalation den Menschen angelastet wird, die selbst negativ von etwas betroffen sind. Wieder lehnen sich alle anderen zurück und lassen sich jeden Gedanken auf einem Silbertablett servieren. Die stoische Unaufgeregtheit, Diplomatie und die Samthandschuhe für die Privilegierten müssen von den Betroffenen mitgebracht werden. Ein kurzer Ausbruch der Verletzung, die sexistische Kackscheiße hinterlässt, zeigte sich als eine Person, die von einer Vergewaltigunsandrohung betroffen war, fast die Fassung verloren und geweint hätte und die Runde verließ. Kurz darauf kam die Person gesammelt zurück und leitete die Diskussion mit stoischer Ruhe weiter an. Ich sah einige weiblich gelesenen Menschen in meiner Umgebung schlucken. Bloß nicht die Fassung verlieren. Denn wer schon mal männliche Privilegien angegriffen hat, weiß, dass jede Emotionalität der Betroffenen die Privilegierten dazu einlädt, die Kritik zu disqualifizieren.

Da war es wieder: das feministische Burnout. Ich verkroch mich nach der Diskussionsrunde. Wie soll ich mich hier wohl fühlen? Gebe ich mir die nächsten Tage unterschwelliges Anzweifeln der Sinnhaftigkeit des Anti-Sexismus? Und halte ich es aus, dass der Kritik Legitimität abgesprochen wird, weil Menschen nicht immer zu stoischer Geduld in der Lage sind?

Wohlfühl-Nacktheit – wie geht das?

Ich blieb. Am nächsten Tag sah ich ein oder zwei Frauen* mit nacktem Oberkörper durch das Camp gehen. Innerlich zuckte ich zusammen. Ich fürchtete ein erneutes Aufbranden der Diskussion: Männer, die sofort ihre T-Shirts ausziehen, mit der Begründung, jetzt sei es doch kein Privileg mehr. Sei das denn kein umgekehrter Sexismus, wenn Frauen sich ausziehen dürften und Männer nicht? Aber es geschah etwas anderes: Das Privileg Nacktheit ohne Konsequenzen leben zu können, war für die cis-männlichen Menschen wenn nicht aus Einsicht, dann aus Unsicherheit erstmal verbrannte Erde.

Dadurch war da ein neuer mysteriöser Raum entstanden, politischer Leerstand gewissermaßen.

Dieser Raum wurde in den nächsten Tagen von nicht männlichen Körpern erobert. Da war auf einmal hier ein weiblicher* nackter Oberkörper, da jemensch, die einfach das Shirt über den Kopf zog und die Sonne genoss. Am See wurde die Frage, ist es ok für euch, wenn ich nackt baden geh, selbstverständlich. Auch die Frauen* fragten , und das eine Privileg wurde nicht durch ein neues Privileg ersetzt, sondern durch Rücksichtnahme aufeinander – alle versuchten irgendwie die Bedürfnisse der anderen mit in die eigenen Freiheitswünsche einzubeziehen. Das war erst ganz ungewohnt, aber dann breitet sich eine Entspannung aus…Der Teich würde zwischenzeitlich zur FKK-Area für alle gender!

Ein Vorgeschmack auf eine Entsexualisierung der Nacktheit! Ich selbst habe mich noch nie oben-ohne durch die Welt bewegt. Ich tat es hier. Vom See zur Dusche. Nicht weit, aber immerhin. Es ging. Es fühlte sich gut an. Nicht als Kampfansage. Einfach so. Ich dachte: So fühlt sich das also an, wenn mensch ohne die gefühlten Blicke auf dem Körper einfach so nackt durch die Gegend latschen kann. Geil!

Und ich war nicht alleine mit meinem veränderten Gefühl für Nacktheit. Meine Comrad sagte, sie sei zum ersten Mal in ihrem Leben nackt schwimmen gegangen und chillte mit mir und anderen Menschen aller Gender ganz oder halb nackt am Wasser.

Wer Privilegien verlernen will, muss von ihnen zurücktreten!

Bäm. Keine Cis-Typen mehr, die rummeckern, dass sie jetzt ihre Freiheit einschränken müssten und das ja voll autoritär sei. Einfach mal zurückstecken und die Klappe halten. Und dann mal aushalten, dass sich niemand in den Freiraum reintraut und wenn doch, nicht gleich dazuspringen und denken „jäh, endlich sind wir alle gleich“, sondern die „Neuen“ dort einfach mal machen lassen.

Keine Ahnung, wie lange diese Stimmung vorgehalten hätte. Der Regen hat es nach ein paar Tagen beendet. Ich hätte davon noch vielmehr gebrauchen können. Diese Kultur der Freiheit für alle breitete sich auch ansatzweise in anderen Bereichen des Miteinanders aus. Ich hatte das Gefühl, alle waren irgendwie mutiger zu sagen, wenn etwas nicht in Ordnung war, denn auf einmal war diese Einschätzung eine Info, die allen wichtig war!

Danke an die Menschen im Awareness-Team, die das möglich gemacht haben!

Das Experiment A-Camp zeigte mir, dass zementierte Privilegien, wie z.B. Nacktheit, aufgebrochen werden und der Abbau von Herrschaft gelebt werden kann. Nur ein Mosaiksteinchen, aber der Beweis, dass es geht!“

Auf dem Camp entstand durch die Reflexion des Geschehenen auch folgendes Flugblatt: Antisexismus und Handlungsoptionen“