Die Argumentation der Lebensschutz-Bewegung

Wessen Leben soll eigentlich geschützt werden?

Am 19. November 2016 findet erneut das halbjährlich organisierte Lebensrechts-Forum des Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG) in Kassel statt. Der seit 1991 bestehende Verein basiert, wie der Name schon verrät, auf Vernetzungen verschiedener Gruppen und ProtagonistInnen1 der sogenannten Lebensschutz-Bewegung.

Recht auf Schwangerschaftsabbruch

Schon punktuell in der sogenannten ersten Frauenbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts, aber vor allem auch in der sogenannten zweiten oder neuen Frauenbewegung in den 1970er Jahren gehörte der Kampf um eine straffreie Abtreibung zur politischen und öffentlichen Debatte. Eine allumfassende Selbstbestimmung, sowohl in Bezug auf Psyche und Körper, als auch in Bezug auf politische und kulturelle Teilhabe, war eine Kernforderung der zweiten Frauenbewegung.

Ein Großteil feministischer und queerfeministischer Aktivist*innen setzen sich seitdem nicht nur für eine selbstbestimmte Sexualität, sondern auch für ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch und die Abschaffung des in Deutschland wirksamen § 218 ein. Laut dem § 218 StGB wird Abtreibung, wenn diese nicht unter bestimmten Voraussetzungen durchgeführt wird, mit Freiheits- oder Geldstrafe sanktioniert. Wer einen Schwangerschaftsabbruch straffrei durchführen lassen möchte, muss dies in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft tun, sich bei staatlich anerkannten Einrichtungen beraten lassen und die drei Tage sogenannten Bedenkfrist bis zum Eingriff einhalten. Hier findet immer noch eine vom Staat gesetzte und rechtlich und somit auch institutionell legitimierte Entmündigung schwangerer Frauen*LesbenTrans*Inter* statt, indem ihnen das Recht auf einen selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper genommen wird.

Der Schutz von Gottes Kindern

Dieser Status Quo ist den fundamentatlistischen ChristInnen, der konservativen bürgerlichen Mitte und rechten Bewegungen jedoch ein Dorn im Auge: Sie fordern ein vollständiges Abtreibungsverbot.

Die sogenannten LebensschützerInnen gehen davon aus, dass Schwangerschaftsabbruch der Menschenwürde entgegenstünde und mit Mord gleichzusetzen sei. Der Embryo wird als von Gott beseeltes Individuum dargestellt. So schreibt bspw. das TCLG in ihrer Broschüre Antworten zum Thema Lebensrecht: „Dennoch sind wir zeitlebens dieselbe individuelle Person wie seit der ersten Minute: ein von Gott geliebter Mensch!“2 und weiter „Gott ist Schöpfer und liebender Vater für jeden Menschen. Kein Mensch entsteht aus Zufall. Für Gott gibt es keine unerwünschten Kinder“3.

Hierbei greifen die LebensschützerInnen auf moralisierende und emotionsgeladene Rhetoriken zurück: Sie sprechen bspw. ab der Befruchtung einer Eizelle von ‚Babys‘, ‚Ungeborenen‘ oder ‚kleinen Menschen‘ mit einer von Gott gegebene Seele zu. Durch die konsequente Vermenschlichung bspw. einer befruchteten Eizelle, ist emotionalisierten Argumentationen nahezu unbegrenzter Raum geboten. So führt das TCLG als Argumentation gegen Abtreibungen aus, dass „[d]iese Kinder […] nie die Schönheit des Lebens kennen lernen [werden], Sonnenuntergänge und Musik genießen können und eigene Erfahrungen sammeln“4.

Die heilige Mutter

In ihrem Kampf gegen Abtreibung verallgemeinern die LebensschützerInnen nicht nur das Erleben von schwangeren Menschen und setzen das Lebensrecht des Embryos über die Selbstbestimmung dieser, sondern bewegen sich mit ihrer Argumentation auch stets in einer patriarchalen, sexistischen und heteronormativen5 Denkweise.

Für das Lebensglück sei die heterosexuelle Ehe zwischen Mann und Frau anzustreben, in der Sexualität ausschließlich zur Zeugung von neuem Leben stattfindet. So betont die Deutsche Evangelische Allianz (DEA), in ihrem sogenannten Familienpolitischen Thesenpapier: Die Familie braucht Zukunft, welches auch seitens der TCLG verlinkt wird: „Ehen und Familien sind die bewährten schöpfungsgemäßen Strukturen des Zusammenlebens“6. Dieser Annahme liegt ein Weltbild zu Grunde, in dem von einer natürlich und biologisch gegebenen Existenz zweier Geschlechter ausgegangen wird, die sich dualistisch und sich heterosexuell begehrend gegenüberstehen. Nicht selten wird bspw. Homosexualität von christlichen FundamentalistInnen und LebensschützerInnen als Sexualität, wenn nicht sogar als Krankheit, die zu heilen gilt, verstanden. Erst im Mai 2014 fand ein von dem evangelikalen Verein Weiße Kreuze7 organisierte Kongress in Kassel zum Thema ‚Sexualethik und Seelsorge‘ statt, bei dem auch über die Therapierbarkeit von Homosexualität referiert wurde8.

Mit der Setzung, dass Menschen dazu geboren sind, sich in heterosexuellen Kleinfamilien auf Lebenszeit zusammen zufinden, geht eine gegen Frauen* gerichtete menschenfeindliche Ideologie einher: Frauen* stehe die natürlich und gottgegebene Aufgabe zu, Mutter zu sein. Dadurch werden Frauen* als lebenschenkendes Objekt stilisiert und damit auf eine Gebärfunktion reduziert. Dass es auch schwangere oder gebährfähige Menschen gibt, die keine Frauen* sind oder Frauen*, die nicht schwanger werden können oder wollen, wird negiert. Non-Binarys, Trans*, Inter* und alle weiteren Identitäten, die sich nicht im heteronormativen und/oder cis9-geschlechtlichen Spektrum verorten, aber auch alle weiteren Beziehungskonzepte abseits der heterosexuellen und monogamen Ehe, wird dabei ihre Existenz und ihre Legitimität abgesprochen. Die LebensschützerInnen pendeln zwischen Leugnung und Ausblendung aller von ihrem holzschnittartigen Weltbild abweichenden Lebensformen. Selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche stellen eine massive Bedrohung dieser natürlichen und von Gott gewollten Ordnung dar und seien somit zu verurteilen und zu verhindern. Die LebensschützerInnen bedienen sich hier einem weiteren emotionalisierenden Argumentationsstrang, indem sie die angeblich traumatisierenden Folgen einer Abtreibung für die Betroffenen darstellen: „Das zweite Opfer einer Abtreibung ist die Mutter des Kindes: In vielen Fällen erleben Frauen die Abtreibung als traumatisches, lebenszerstörendes Ereignis, was sie zuvor so nie erwartet hätten“10.

Auch wenn die Lebensschutz-Bewegung fokussiert für den Kampf gegen Abtreibung eintritt, sind inhaltliche Positionen gegen Verhütung im Allgemeinen, nicht heteronormativen Lebens- und Liebensformen, Gleichstellungspolitiken sowie gegen emanzipatorische Sexualpädagogik ebenso Bestandteil der Argumentationen. Besonders menschenfeindlich erscheint die Weigerung Verhütung als selbstbestimmte Reproduktionskontrolle zu befürworten. Letztlich sollen Menschen, die schwanger werden können, jeden Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben fallen lassen – vor, während und nach der Schwangerschaft.

Lebensschutz = Volksschutz?

Von LebensschützerInnen wird die Dramatik der Debatte um einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch durch nationalistische Argumentationsstrukturen befeuert: So entspräche eine Schwangerschaft nicht nur dem natürlichen Wunsch von Frauen*, auch sei sie notwendig, um die Kultur zu erhalten. Die dahinter stehende Angst, dass das deutsche Volk durch den vermeintlichen demografischen Wandel aussterbe, wird sowohl von LebensschützerInnen, als auch von AnhängerInnen der Neuen Rechten gerne geteilt. Versteckt wird diese nationalistische Argumentation häufig durch den Bezug auf das in Deutschland bestehende Sozialsystem. Die DEA schreibt: „Die Leistungskraft unserer staatlichen Gemeinschaft ruht auf dem Funktionieren des Generationenvertrages. Da nur noch in ca. 12% der Haushalte zwei und in ca. 5 % der Haushalte drei und mehr Kinder leben, kann der Generationenvertrag schon rein quantitativ nicht mehr funktionieren“11. Die darin formulierte Sorge, dass das Sozialsystem, vor allem das Rentensystem nicht mehr sicher sei, ist stets mit der Lösungsstrategie der heterosexuellen Familienförderung verbunden. Auch wenn es selten so direkt formuliert wird, worum es eigentlich geht ist nationaler Völkerschutz und rechte Ideologie.

Für ein emanzipiertes Zusammenleben und eine queere Gesellschaft

Die Argumentation der LebensschützerInnen zielt auf verschiedene Punkte ab: Embryonen werden zu beseelten Menschen erklärt, dessen Schutz wichtiger erscheint als das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Menschen. Um diese entmündigende und antiemanzipatorische Position zu legitimieren, werden Frauen* zudem im wesentlichen auf eine Gebärfähigkeit reduziert und nicht als autonome Menschen wahrgenommen. In dieser Logik, macht es dann auch Sinn traumatisierende Folgen von Abtreibungen für Frauen* zu postulieren. Die Existenz von Trans*, Inter* und Queers wird dabei delegitimiert. Außerdem erscheint selbstbestimmte Schwangerschaftskontrolle den LebensschützerInnen als Bedrohung der Gesellschaftsordnung. Diese Argumentationen sind in ihrer Schlichtheit funktional und sichern AbtreibungsgegnerInnen normative Sicherheit. Denn wer kann gegen die gute Absicht Leben zu schützen etwas haben? Wieso sollte eine tradierte Lebensform wie die heterosexuelle Kleinfamilie angezweifelt werden? In dem geschlossenen Weltbild der LebensschützerInnen liegt – dank der kurzschlüssigen Verbindung von Embryo, Ehe und Gesamtgesellschaft – die Zukunft und der Fortbestand vor allem im Uterus von schwangeren Menschen. Das diese verkürzte Erklärung wenig gewinnbringend und stets von der komplexeren Realität bedroht ist, versteht sich im Grunde von selbst.

Queerfeministische und antifaschistische Politiken können diese patriarchalen, frauen*feindlichen und heteronormativen Argumentationen der Lebensschutz-Bewegung nicht einfach so stehen lassen. Körperliche Selbstbestimmung, die (möglichst) frei von religiösen und gesellschaftlichen Normierungen und vor allem von staatlicher Regulierung ist, ist Teil emanzipatorischer Kämpfe.

Unsere Ziel muss zum einen die Abwehr des zutiefst menschenfeindlichen Weltbildes der vermeintlichen LebensschützerInnen sein. Solche Gruppen dürfen keinen gesellschaftlichen Einfluss nehmen. Zum anderen muss die noch immer bestehende staatliche Entmündigung von schwangeren Menschen und die Ausgrenzung nicht heteronormativer Lebensformen abgebaut werden.


1 Da die LebenschützerInnen von einer biologisch determinierten Zweigeschlechtlichkeit ausgehen, wird in diesem Zusammenhang das Binnen-I verwendet.

2 http://www.tclrg.de/download/tclg_antworten_lebensrecht.pdf S.3

3 http://www.tclrg.de/download/tclg_antworten_lebensrecht.pdf S.8

4 http://www.tclrg.de/download/tclg_antworten_lebensrecht.pdf S.5

5 ‚Heteronormativität‘ beschreibt die Vorstellung der normativen Gesamtgesellschaft, dass Heterosexualität als ’normal‘ und ‚richtig‘ gilt. Verbunden mit Heteronormativität ist auch immer die Annahme von Zweigeschlechtlichkeit.

6 http://www.tclrg.de/download/ead_familie_braucht_zukunft.pdf S.3

7 http://jungle-world.com/artikel/2014/23/49998.html

8 Die zweite Vorsitzende des TCLG Gudrun Ehlebracht ist ebenso Leiterin Weißes-Kreuz Arbeitskreis in Bielefeld und im Vorstand der Evangelischen Allianz Bielefeld.

9 Der Begriff ‚Cis‘ beschreibt die Übereinstimmung von geschlechtlicher Identität und zugewiesenem Geschlecht bei der Geburt. ‚Cis-Sexismus‘ beschreibt Diskriminierungen gegenüber nicht-cis Personen.

10 http://www.tclrg.de/download/tclg_antworten_lebensrecht.pdf S.5

11 http://www.tclrg.de/download/ead_familie_braucht_zukunft.pdf S.4